Fangen wir beim wichtigsten Ratgeber und Partner des Patienten an: dem niedergelassenen Arzt. In Deutschland ist er fast immer als Kassenarzt tätig (neuerdings Vertragsarzt genannt). Er behandelt im Schnitt zu 80–95 % Kassenpatienten (also gesetzlich Versicherte) und zu 5–20 % Privatversicherte. 60 % seines Einkommens bezieht er von seinen Kassenpatienten, 30 % von Privatpatienten und 10 % durch Selbstzahlerleistungen (IGeL). Dabei schwanken diese Zahlen natürlich von Arzt zu Arzt. Fast zwei Drittel seines Einkommens bezieht der Arzt also aus dem Honorarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung – und das hat es in sich.
Erste Erlösquelle: die Kassenpatienten
Der behandelnde Kassenarzt bekommt sein Honorar nicht vom Patienten direkt. Und auch nicht von dessen Krankenkasse, sondern von seiner Kassenärztlichen Vereinigung (KV), von denen es 17 in Deutschland gibt. Diese zwischen den Ärzten und den Krankenkassen geschalteten Organisationen erhalten pauschale Geldbeträge von den Krankenkassen, die jede KV vierteljährlich nach einer komplizierten Formel an die ihr zugeordneten Ärzte verteilt.
Damit die Kosten für die ärztlichen Behandlungen für die Kassen kalkulierbar bleiben und nicht etwa ins Uferlose steigen, muss der für die Kassenärztlichen Vereinigungen bereitgestellte „Honorartopf“ zur Versorgung aller Patienten reichen, unabhängig davon, ob die Wartezimmer wegen einer Grippewelle überquellen oder nicht. Für die Aufteilung des „Honorartopfs“ ist nun die Dokumentation jedes Handgriffs durch den Arzt entscheidend. Dazu ordnet jeder Arzt die Behandlung des verstauchten Knöchels, das Abhören der Lunge oder das Blutdruckmessen zunächst einer ganz bestimmten, im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) für Vertragsärzte aufgelisteten Gebührenziffer zu, die wiederum an einen feststehenden Punktewert gekoppelt ist. Die gesammelten Punkte jeder Praxis werden dann bei der zuständigen KV quartalsweise zu einem „individuellen Punktzahlvolumen“ addiert. Zum Schluss wird der zu verteilende Honorartopf durch die Summe sämtlicher individuellen Punktwerte geteilt. Ergebnis der Rechnerei ist der „Punktwert in Cent“, aus dem sich das Honorar des Arztes ableitet.
Konkret heißt das: Je mehr Leistungen alle Ärzte zusammen abrechnen, desto kleiner fällt das Stück vom „Honorarkuchen“ für jeden Einzelnen aus. Da das von allen Kassenärzten gemeinschaftlich abgerechnete Leistungsvolumen in den letzten Jahren stark anstieg, gab es entsprechend viele lange Gesichter: der Punktwert pro abgerechneter Leistung ist seit 1993 um über 40 % gesunken – d.h. die Mediziner bekommen heute für die Versorgung eines Kassenpatienten viel weniger als früher.
Die scheinbar logische Konsequenz: Noch mehr Punkte sammeln. Das Bild vom Arzt als „Hamster im Rad“ machte die Runde. Um einem weiteren Punktwertverfall vorzubauen, erfanden Politiker und Gesundheitsökonomen schließlich viele Deckelungen, eine Art Punkte-Obergrenze für einzelne Tätigkeiten, aber auch für die „Punktebelastung“ pro Krankenschein und schließlich für die ganze Arztpraxis. Diese Deckelungen haben aber allenfalls die weitere Punktwertinflation gemildert; der Hamsterradeffekt war nicht mehr rückgängig zu machen.
Teure Versorgung – fragwürdiger Nutzen. Die schwankenden und tendenziell sinkenden Punktwerte und die dadurch nur schwer kalkulierbaren Umsätze haben die Ärzte schwer getroffen. Für viele Ärzte ist es schwierig geworden, „nur“ mit den KV-Honoraren der Kassenpatienten zu überleben. Vor allem in den größeren Städten konkurrieren immer mehr niedergelassene Mediziner um Patienten und um die beschränkten finanziellen Mittel. Musste ein Arzt sich 1960 noch um durchschnittlich 793 Menschen kümmern, waren es 2004 nur noch 269 Patienten. Und dabei soll er „keine unnötig teuren Therapien verordnen, sondern sich auf das Notwendige beschränken und die Wirtschaftlichkeit seiner Behandlung bedenken“, so lautet die gesetzliche Vorgabe an den Kassenarzt.
Zweite Erlösquelle: die Privatpatienten
Kein Wunder, dass die Mediziner sich zunehmend nach alternativen Geschäftsfeldern umschauen. Manch einer kümmert sich beispielsweise nur noch um Privatversicherte, für die noch immer ein wesentlich breiteres Spektrum an Therapieformen als innerhalb der gesetzlichen Krankenkasse erstattet wird. Hinzu kommt ein ~ 2,3-faches Honorar pro Leistungseinheit und wesentlich weniger Deckelungen als bei den gesetzlichen Krankenkassen. Zudem ist die private Krankenkasse (PKV) gar nicht der Vertragspartner des Arztes, sondern es gilt das Prinzip der Kostenerstattung. Die Patienten erhalten nach der Behandlung eine Rechnung des Arztes, die sie selbst bezahlen und dann zur Erstattung an ihre Kasse weiterreichen.
Dritte Erlösquelle: Sebstzahlerleistungen – die IGeL-Medizin
Da es vor allem im ländlichen Raum zu wenige Privatpatienten gibt, schufen die Ärzteverbände ein weiteres Geschäftsfeld: das Verzeichnis Individueller Gesundheitsleistungen(IGeL).
IGeL-Plakat eines Herstellers zum Einsatz im Wartezimmer – hier ein Beispiel für urologische Praxen, um für Bluttests zur Blasenkrebsfrüherkennung zu werben. Diese – wie auch andere vergleichbare Angebote – sind seriös und wissenschaftlich fundiert. Trotzdem: Ob sie im konkreten Fall sinnvoll sind, ist ohne Recherche fast nicht zu entscheiden.
Familie Dres. med. Claudia und Arne Schäffler, Augsburg
Es bestand zunächst aus 80 Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten, alternativen Heilmethoden und diversen anderen Wunschleistungen, z. B. Akupunkturbehandlungen, Impfungen vor Fernreisen, zusätzliche Tests bei Schwangeren. Gemeinsames Kriterium aller Leistungen dieser Liste war, dass sie aus unterschiedlichen Gründen sämtlich nicht zulasten der gesetzlichen Krankenkasse erbracht, sondern als komplette Selbstzahlerleistung abgerechnet werden.
Sprach die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) bei der Bekanntmachung des IGeL-Konzepts noch von der „Eigenverantwortung der Versicherten für individuelle Zusatzwünsche“, die es zu bekräftigen gelte, um die Solidargemeinschaft nicht allzu sehr zu belasten ist das IGeLn heute für viele Ärzte vor allem eines: ein lukrativer Neben- und manchmal sogar Haupterwerb. Mehrere hundert Angebote werden gegenwärtig in Arztpraxen und auf den Internetseiten von Ärzten angeboten. Für Ärzte und Arzthelferinnen gibt es IGeL-Zeitschriften („IGeL-Plus“, „IGeL aktiv“), Bücher und Broschüren („Einfach verkaufen – der IGeL-Verkaufstrainer“), IGeL-Verkaufsseminare oder IGeL-Messen („Selbstzahlermarketing – Wege zum Erfolg außerhalb der gesetzlichen Krankenkasse“), die willige Ärzte dabei unterstützen, „sich neue lukrative Privatmärkte zu erschließen“. Spitzenreiter beim Verkauf von Selbstzahlerleistungen sind die Augenärzte, gefolgt von Gynäkologen, Urologen, Hautärzten und Orthopäden
Wie viele Ärzte sich derzeit als Verkäufer von privaten Zusatzleistungen betätigen, ist unklar. Schätzungen gehen von mindestens 75 % aller Kassenärzte aus, die einzelne IGeL-Leistungen anbieten, weitere 8 % planen solche Angebote. Immerhin die Hälfte der Befragten glaubt, die eigene Praxis ohne IGeL nicht mehr wirtschaftlich betreiben zu können
- Übersicht zu den IGeL-Leistungen im Bereich der Vorsorge und Früherkennung
- Übersicht zu labormedizinischen IGeL-Leistungen
Zu den IGeL-Leistungen zählen auch Leistungen, die schon immer privat zu finanzieren waren: beispielsweise Tauglichkeitsuntersuchungen, Impfungen vor Fernreisen, Schönheitsoperationen oder die Entfernung von Tätowierungen. Der Unterschied zu früher besteht aber darin, dass früher IGeL-Leistungen strikt von der übrigen Kassenpraxis zu trennen waren (der Patient durfte nicht in der gleichen Konsultation IGeL-Leistungen und Kassenleistungen empfangen), und dadurch nur für wenige Ärzte eine tragende Rolle gespielt haben.
Die Problematik des Arztes als Dienstleister und Verkäufer
Fast alle „Heilberufstätige“ stehen heutzutage unter dem Zwang, ihr Auskommen außerhalb der Erlöse aus den gesetzlichen Kassen zu sichern. Insofern ist es verständlich, wenn Ärzte ihren Patienten Leistungen anbieten, die über das von den Krankenkassen abgedeckte Spektrum hinaus gehen. Dieser Verkauf von Zusatzleistungen bringt aber ernstzunehmende Konflikte mit sich.
Erstens: Ein Arzt oder Zahnarzt, der als Verkäufer seiner Leistungen auftritt, nutzt die ihm eingeräumte Vertrauensposition, um Erwartungen zu wecken und Nachfrage zu schaffen. Das mag gerechtfertigt sein, wenn der Patient nach dem Stand der Wissenschaft von dem Zusatzangebot profitiert. Aber gerade das ist bei den IGeL-Leistungen häufig nicht der Fall. Dies ist ein wichtiger Grund, warum die Kassen diese Leistungen eben nicht übernehmen.
Zweitens: Wer verkaufen möchte, dem fällt es schwer, unvoreingenommen zu beraten, und beim Beratungsgespräch auch die Nachteile einer Therapie klar zu benennen – und gerade dazu ist jeder Arzt vor einer Behandlung nach Gesetz und Berufsordnung verpflichtet
Studien zeigen, dass ausführliche und neutrale Informationen über IGeL-Angebote zu einer deutlich geringeren Inanspruchnahme solcher Leistungen führen. Von den Patienten, die ein 20-minütiges Video mit umfassenden, objektiven Informationen über den PSA-Test zur Entdeckung eines Prostatakrebses gesehen hatten, nahmen 34 % den Test in Anspruch; in der Kontrollgruppe, die lediglich ein einseitiges Infoblatt erhalten hatte, waren es dagegen 55 %
Viele Ärzte betrachten das Geschäft mit den Zusatzleistungen daher auch mit sehr gemischten Gefühlen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, stehe die Abkürzung IGeL für „Intransparentes Gemisch entbehrlicher Leistungen“, meint beispielsweise Prof. Johannes Köbberling, Mitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft und früher Chefarzt für Innere Medizin. Auch Bundesärztekammerpräsident Prof. Jörg-Dietrich Hoppe will die „Ausfransungen des grauen Marktes“ bei den Individuellen Gesundheitsleistungen eindämmen und plant einen einheitlichen IGeL-Katalog, der allgemein verständliche Bewertungen aller erlaubten Selbstzahlerleistungen enthalten soll.
Sondertext: IGeL: Wo die Grenzen sind
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