Evidenzbasierte Medizin

Unter dem Banner der „beweisbasierten“, also evidenzbasierten Medizin sammelten sich in den 1990er Jahren Ärzte und Wissenschaftler, die mit der täglichen Praxis der Medizin nicht zufrieden waren. Zu oft, so ihre Feststellung, stützten sich Ärzte bei ihren Entscheidungen nicht auf die beste verfügbare „Evidenz“, d.h. auf die in wissenschaftlichen Studien gewonnenen Erkenntnisse, sondern verließen sich auf Erfahrungen („dieses Mittel wird schon seit 50 Jahren mit Erfolg angewendet“), auf die Meinung von Experten (spöttisch als „eminenzbasierte Medizin“ bezeichnet) oder auf persönliche Vorlieben („freie Therapiewahl“). Sie sahen zwischen der Forschung und der klinischen Anwendung der Forschungsergebnisse einen Graben, den es zu überwinden galt. Dazu schlugen sie vor:

  • Die Forschungsergebnisse sollten besser gesiebt und strenger auf ihre Qualität hin bewertet werden. Dazu wurde das Instrument der systematischen Übersichtsarbeiten(systematic reviews) eingeführt, bei denen alle verfügbaren Studien zu einem Thema nach festgelegten Kriterien bewertet und zusammenfassend beurteilt werden. Damit kann sich der Arzt ein besseres Bild über den Stand der Forschung machen.
  • Auch wurden die Forschungsmethoden auf den Prüfstand gestellt und danach beurteilt, wie gut sie darin waren, die beiden Hauptfeinde der Wissenschaft, Zufall und Fremdeinflüsse, auszuschalten. Kein Wunder, dass in diesem Sieb fast nur noch randomisierte, placebokontrollierte Doppelblindstudien hängen blieben.
  • Zugleich wurden Datenbanken wie etwa die Cochrane Library geschaffen, über die der Arzt rasch Zugriff auf systematische Übersichtsarbeiten hat.

Qualitätskontrolle

Was sich dabei auch zeigte: Die wissenschaftliche Qualitätskontrolle funktioniert nur unzureichend. Sie basiert bisher vor allem auf dem Peer-review-Verfahren: Will ein Forscher seine Ergebnisse in einer Fachzeitschrift veröffentlichen, so wird seine Veröffentlichung mehreren Forscherkollegen aus demselben Forschungsbereich zur Beurteilung vorgelegt. Ob die Forschungsarbeit zur Publikation angenommen wird, hängt vom Urteil dieser Fachkollegen ab; und die kennen in den meisten Fällen den Forscher oder dessen Chef persönlich.

Obwohl dieser Prozess für Manipulationen anfällig ist – dies zeigte etwa der Skandal um den koreanischen Stammzellforscher Hwang Woo Suk – gibt es bisher noch keine Alternative zum Peer-review- Verfahren.

Dogmen abschaffen

Die evidenzbasierte Medizin hat mit vielen überholten Vorstellungen und manchen lieb gewonnenen medizinischen Praktiken aufgeräumt. Aber auch das hat sich in den letzten Jahren gezeigt: Im modernen Arztkoffer ist sie nur ein Werkzeug unter vielen. Auch im 21. Jahrhundert brauchen Ärzte für ihre Entscheidungen Erfahrung, Intuition und ein Verständnis des Patienten und seiner Lebenswelt. Viele „Standarderkrankungen“ lassen sich zwar nach einem Schema behandeln, andere sind jedoch so stark an die Lebensumstände des Einzelnen gebunden, dass es keine für alle gültigen Patentlösungen geben kann – bei stressbedingten Erkrankungen etwa muss die für Frau Maier „ideale“ Therapie bei Frau Müller noch längst nicht wirken.

Doch selbst auf viele „Standardfragen“ gibt es bis heute keine guten wissenschaftlichen Antworten: Ist es richtig, bei Infektionskrankheiten das Fieber zu senken? Wir wissen es nicht. In welcher Position ist eine Geburt am leichtesten? Auch das wissen die Ärzte nicht, und so wird als „Weg des geringsten Widerstands“ noch immer diejenige Position bevorzugt, die es dem medizinischen Personal am leichtesten macht – die Rückenlage. Wie viel Sonnenlicht tut uns gut? Wie viel Kalzium brauchen unsere Knochen, um gesund zu bleiben? Alles wissenschaftlich ungeklärt.

Ein Grundproblem der heutigen Medizin kann auch die evidenzbasierte Medizin nicht lösen: Dass die wissenschaftliche Basis der Medizin zunehmend von denen geschaffen wird, die an ihrer Anwendung verdienen – aus der „objektiven“ Basis wird so möglicherweise ein morastiger Untergrund.

Nach wie vor muss also der Graben zwischen Forschung und Praxis durch die ärztliche „Kunst“ überbrückt werden. Die Hoffnung der evidenzbasierten Medizin ist deshalb nicht die, Erfahrung und Kunst aus der Medizin zu verbannen, sondern ihr wissenschaftliches Fundament zu stärken.

Wissenschaft und ärztliche Praxis

Die von der evidenzbasierten Medizin ausgehenden Impulse haben bisher eher die „wissenschaftliche Ebene“ der Medizin, z. B. Fachgesellschaften oder Universitäten, erreicht; den Alltag des niedergelassenen Arztes haben sie kaum verändert.

So werden etwa die evidenzbasierten Leitlinien, d.h. die Vorschläge von Fachgesellschaften, die durch die systematische Auswertung der aktuellen wissenschaftlichen Studien erstellt wurden, von vielen Praktikern als zu umständlich und starr empfunden

Das liegt auch am ärztlichen Beruf. Praktizierende Ärzte sind selten Wissenschaftler, und Wissenschaftler sind selten praktische Ärzte. Entsprechend schwer fällt es, hier wirklich tragfähige Brücken zu bilden.

<h3">Wissenschaft als Erkenntnisprozess

Es wird oft angenommen, durch wissenschaftliche Studien werde „die Wahrheit“ enthüllt: Das verwirrende Dickicht werde zur Seite gedrängt und der wahre Kern der Dinge enthüllt. Dass dies ein Missverständnis ist, zeigt schon ein Blick in die Fachzeitschriften: Ein großer Teil der wissenschaftlichen Ergebnisse widersprechen sich. Das liegt zum einen daran, dass die Qualität der Forschung erheblich schwankt – dass ein Ergebnis veröffentlicht wird, ist noch lange kein Qualitätsbeweis.

Aber es liegt auch an etwas Grundsätzlichem: Wissenschaftliche Studien sind keine Zertifikate von Wahrheit, sondern vorläufige, durch die angewandten Methoden limitierte Erklärungen einer Vermutung (der so genannten Hypothese). Die Antworten der Wissenschaft haben somit immer ein begrenztes Haltbarkeitsdatum: Sie gelten im konkreten Fall, solange noch keine bessere Methode erfunden wurde (und dies ist ja gerade das Ziel der Wissenschaft) und solange die Wissenschaft keine bessere Erklärung geben kann (ein anderes ihrer Ziele).

Dass wissenschaftliche Erklärungen falsch oder unzureichend sind und irgendwann als überholt gelten, ist somit Teil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Nicht umsonst werden wissenschaftliche Arbeiten „Studien“ genannt: Kein Mensch würde in ein Haus einziehen, das der Architekt als eine „Studie“ anpreist – wir sollten wissenschaftliche Studien ähnlich sehen: als Teil eines Wegs zu immer besseren Antworten.

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Autor*innen

Dr. med. Herbert Renz-Polster | zuletzt geändert am um 12:34 Uhr